Inklusion und Mode: Die Körper sind nicht das Problem 

2023-03-08 15:55:42 By : Mr. jick zhu

Die Berliner Designerin Sema Gedik entwickelte einst Konfektionsgrößen für Kleinwüchsige. Doch bis heute wird Mode für Menschen mit Behinderung kaum mitgedacht.

20-jähriges Jubiläum bei den Spielen in Paris: Die „Paralympics Zeitung“ ist seit 2004 ein Gemeinschaftsprojekt von Tagesspiegel und DGUV. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit entstand auch folgender Text anlässlich des Internationalen Tages für Menschen mit Behinderungen.

Ihre Cousine Funda ist kleinwüchsig – und passende Bekleidung zu finden, ist für sie sehr kosten- und zeitaufwendig. Grund genug für die Berliner Designerin Sema Gedik, 2012 ihr inklusives Modeprojekt „Auf Augenhöhe“ zu starten.

Doch bevor die ersten tragbaren Modelle in Produktion gehen konnten, war das Maßband ihr Maß aller Dinge. Gedik entwickelte das weltweit erste einheitliche Konfektionsgrößensystem für kleinwüchsige Menschen. „Anfangs wurde ich in der Branche belächelt“, sagt die 32-Jährige bei einem Besuch in ihrem Studio: „Inzwischen arbeite ich zusammen mit einem großen japanischen Label an einer Kollektion für Menschen im Rollstuhl.“ Sie betont, wie sehr ihr Inklusion und Teilhabe am Herzen liegen.

Ich halte Kleidung für einen essenziellen Bestand, um in der Gesellschaft zu funktionieren.

„Nicht die Körper sind das Problem, die Modeindustrie ist das Problem. Es sind noch zu viele Barrieren in den Köpfen der Verantwortlichen“, sagt Gedik. Menschen mit Behinderungen haben kaum Zugang zu tragbarer und komfortabler Kleidung. Damit Mode inklusiv werden kann, müssen alle Beteiligten zusammenarbeiten, so Gedik.

Sie führt viele Gespräche mit Kleinwüchsigen, Rollstuhlfahrenden, mit Menschen, die eben nicht in die gängigen Konfektionsnormen passen. Sie hört zu, fragt nach, was die Wünsche und Bedürfnisse sind, was getan werden muss, damit die Kleidung passt und alltagstauglich ist, damit Mode Spaß macht.

Eine von ihnen ist Manuela Schmermund, Sportschützin und Goldmedaillengewinnerin bei den Paralympics in Athen. Seit einem schweren Autounfall 1992 ist sie auf den Rollstuhl angewiesen und hatte mit dem Thema Mode eigentlich schon abgeschlossen. „Wirklich barrierefreie Umkleidekabinen existieren nicht und für uns Rollstuhlfahrende gibt es auch kaum alltagstaugliche Kleidung“, sagt Schmermund.

Kleidung müsse für sie bequem sein, schließlich sitzt man ja den ganzen Tag und könne nicht eben mal aufstehen, wenn die Hose kneift. Die Hosenbeine seien auch immer zu kurz und im Gesäß rutschen sie dann gerne mal unter die empfindliche Nierenregion und das sei nicht nur unangenehm, sondern auch ungesund.

Laut Statistischem Bundesamt leben derzeit rund 7,8 Millionen schwerbehinderte Menschen in Deutschland, rund 1,4 Millionen von ihnen sitzen im Rollstuhl. „Passende Mode stärkt das Selbstbewusstsein enorm. Man sitzt aufrechter, man wird gesehen, wird wahrgenommen“, sagt Schmermund. Den Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen sieht sie eher kritisch. In Deutschland sei Teilhabe und Inklusion in großen Teilen der Gesellschaft immer noch nicht angekommen. Die Pandemie habe die Situation deutlich verschlechtert.

Für Manuela Schmermund wird zu vieles über die Köpfe der Menschen mit Behinderungen hinweg geplant und beschlossen. In der Politik seien zu wenig Entscheider, die selbst eine Behinderung haben und so die täglichen Sorgen und Nöte besser verstehen könnten. „Wie oft bin ich in einem Hotel untergebracht, das zwar der DIN-Norm entspricht, aber keine praktikable Barrierefreiheit bietet“, fragt Schmermund: „Der Grund liegt auf der Hand: Es wird ohne die betroffenen Menschen geplant.“ 

Für die Parasportlerin fängt das Problem jedoch viel früher an. Nämlich im Krankenhaus und in der anschließenden Reha. Wenn allen frisch Verunfallten der Zugang zu den Reha- und Behandlungskonzepten der BG Kliniken offenstehen würden, hätten sie später im Alltag weniger Probleme, sagt Schmermund. Die medizinischen Versorgungseinrichtungen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung würden ein physisches und psychisches Komplettpaket zur Wiedereingliederung in den Beruf anbieten und damit entscheidend zur Selbstständigkeit der Menschen mit Behinderung beitragen.

Für Sema Gedik ist neben der beruflichen Teilhabe der offene und angstfreie Umgang mit dem Thema Behinderung in unserer Gesellschaft ein wichtiges Anliegen. Dabei spielt für sie Mode als Ausdruck der eigenen Individualität und Identität eine zentrale Rolle. „Angefangen bei der Entscheidung, welche Kleidung man tragen möchte, bis hin zur Wahl des eigenen Wohnverhältnisses“, sagt sie: „Ich halte Kleidung für einen essenziellen Bestand, um in der Gesellschaft zu funktionieren.“

Im Rahmen der Bachelorarbeit von Sema Gedik entstand die Idee, Mode für kleinwüchsige Menschen zu entwerfen und diese nach dem Standard der Textilbranche zu produzieren. Die Initialzündung war eine Unterhaltung, die Gedik mit ihrer Cousine Funda führte.

Noch immer vermisst sie gelebte Inklusion und Diversität in der Modebranche, wenngleich sie seit der Pandemie ein Umdenken feststellt. Neben dem weltweit wachsenden Bewusstsein für die ökologische Verantwortung sieht Gedik auch die Verpflichtung, mit Mode politische Statements zu setzen. Teilhabe ist für sie gleichbedeutend mit Solidarität gerade für die sozial Benachteiligten in unserer Gesellschaft.

„Auf Augenhöhe zu leben und zu arbeiten, bedeutet für mich, Menschen in all ihrer Diversität wahrzunehmen und in den kreativen Prozess mit einzubeziehen“, sagt Gedik. Sie setzt ihre hohen Ansprüche an sich und ihre Arbeit konsequent um: Sie produziert ihre nachhaltige Mode in Berlin, achtet auf flache Hierarchien und ist im ständigen Austausch mit ihrer Community. Und was sagt Funda zum wachsenden Erfolg ihrer Cousine? Sema Gedik lacht: „Sie kann es immer noch nicht glauben, was hier passiert.“

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